Ich verletze mich selbst, weil ich den seelischen Schmerz nicht mehr aushalte. . .

        blutendesAuge

 

 

WENN DIE SEELE SCHMERZT

SELBSTVERLETZENDES VERHALTEN IM JUGENDALTER

Von autoaggressivem oder selbstverletzendem Verhalten (SVV) spricht man, wenn jemand sich selbst körperliche Schmerzen oder Wunden zufügt, indem er sich z. B. ritzt. SVV geschieht meist in einer belastenden Situation, wenn der seelische Kummer zu gross ist. Oder die Betroffenen fühlen sich so isoliert und unverstanden, dass sie diese Leere kaum aushalten können. Sie ritzen sich, um den inneren Druck, die Spannungen oder Angst abzubauen und um die seelische Not mit körperlichem Schmerz zu überdecken. Oft gelingt ihnen erst so, sich selbst wieder zu spüren und zu beruhigen.

EIN DEUTLICHER HILFERUF

Von SVV betroffen sind mehrheitlich Mädchen, aber auch Jungen. Selbstverletzendes Verhalten ist immer ein Alarmsignal und ein Hilferuf, den man ernst nehmen sollte. Junge Menschen, die sich selbst verletzen, fallen oft spontan nicht auf. Sie sind meist nachdenklich, sensibel, aufmerksam und haben oft hohe Ansprüche an sich selbst. Sie sprechen nicht darüber, was sie bedrückt, haben vielleicht Hemmungen, negative Gefühle nach aussen sichtbar zu machen und verbergen, dass sie sich selbst verletzen. Um aus dieser Spirale zu kommen, brauchen sie Hilfe, Ermutigung und Unterstützung. Von ihrem Umfeld und von Fachpersonen.

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WAS TUN BEI SVV IM FREUNDESKREIS?

Erste Anzeichen zu erkennen, dass im Alltag etwas nicht stimmt, ist für Freunde, Kollegen und auch Angehörige nicht immer einfach, weil SVV meist im Verborgenen stattfindet. SVV ist zudem in unserer Gesellschaft ein Tabuthema.

Was tun? Wenn du selbstverletzendes Verhalten bemerkst, ist es wichtig, dass du die Person in einem ruhigen Augenblick auf mögliche Hilfe ansprichst. Es ist wichtig, dass Betroffene sich professionell beraten lassen. Manchmal braucht es etwas Geduld, bis sie Vertrauen fassen, weil es keine einfache Situation ist und es ihnen vielleicht schwer fällt, über Gefühle zu sprechen. Auch wenn du dir Sorgen machst: Übe keinen Druck aus, sondern versuche, dem/der Betroffenen Raum zu lassen und ihre Intimsphäre zu respektieren. Bohre nicht nach dem Warum, sondern schaue nach vorn und probiere Lösungen aufzuzeigen. Das kann eine Jugendberatungsstelle, der kinder- und jugendpsychiatrische Dienst oder die Hausärztin/der Hausarzt sein. Und vielleicht bietest du an, dass ihr gemeinsam professionelle Hilfe organisiert.

ANDEREN HELFEN UND AUF SICH ACHTEN

Unterstützung hat viele Gesichter. Das kann auch bedeuten, dass du für Ablenkung sorgst. Z.B. könntest du dich zum gemeinsamen Sport verabreden. Sich auspowern hilft vielen, Stress und Druck abzubauen. Nicht allein zu sein, heisst, Grübelmomente und Einsamkeit zu vermeiden. Gut ist auch, wenn der/die Betroffene weiss, dass du ein offenes Ohr hast, unvoreingenommen zuhören kannst, das Erzählte ernst nimmst, jedoch nicht zusätzlich dramatisierst. Vielleicht verschaffst du dir zudem einen Überblick über Skills, sogenannte Ersatzhandlungen. Das sind Strategien, die den Betroffenen helfen, neue Handlungsmuster kennenzulernen, den Druck abzubauen, die Spannungen zu reduzieren und SVV zu vermeiden. 

Bitte vergiss nicht, dass du als Freund/Freundin zwar eine wichtige Bezugsperson bist, fachliche Unterstützung jedoch nicht ersetzen kannst. Da solltest du dich nicht überfordern!

Bist Du selber betroffen ?

FINDE EINE PASSENDE STRATEGIE 

Wichtig ist, dass du eine Strategie findest, die zu dir passt und die du jederzeit anwenden kannst, wenn es dir nicht so gut geht. Im Idealfall übst du diese Strategien regelmässig und findest heraus, wann dir was besonders gut tut. Durch die Routine integrierst du die Strategie nach und nach in deinen Alltag und kannst sie auch unter grosser Anspannung anwenden, wenn klares Denken schwerer fällt, weil sie dir rundum vertraut sind. Du hast dann sozusagen deine persönliche Notfallapotheke mit Handlungsmöglichkeiten parat, die dich schützen.

So können z.B. Yoga und autogenes Training helfen, Stress abzubauen. Entspannung finden viele, indem sie sich durch Bewegung und im Sport auspowern. Anderen hilft ein sinnesbezogener Zugang: Sie schreiben sich den Kummer von der Seele in ein Tagebuch. Oder sie drücken ihre Gefühle in Musik aus, indem sie ein Instrument spielen, singen oder tanzen. Auch Malen und Zeichnen sind kreative Wege, seine Gefühle wahrzunehmen, auszudrücken und Stimmungen zu verarbeiten. 

WENN DER DRANG ZU GROSS IST

Sollte der Drang zu SVV trotzdem übergross werden, helfen im Notfall Ersatzhandlungen, die nicht verletzen: rufe jemanden nahestehenden an um Dir das was schmerzt, von der Seele zu reden, nicht allein sein, sich ablenken mit Sport, laut Musik hören und dazu tanzen, einen Eiswürfel auf die Hand drücken, in ein Kissen boxen oder ein Gummiband ums Handgelenk legen und spicken lassen –  durch die Körperempfindungen, die dich aber nicht verletzen, holst du dich zurück auf den Boden.

Denn in solch einer Situation braucht es eine umgehende Unterbrechung des schwer aushaltbaren Zustands. Es ist wichtig, den Zustand einerseits erstmal zu akzeptieren in dem Sinne "Ich bin jetzt sehr angespannt." Aber du kannst etwas tun, um dem schnell entgegenzuwirken. Du brauchst dich nicht zu verletzen, Drogen zu nehmen, Spontankäufe tätigen oder was du sonst bislang gemacht hast, was dir langfristig aber schadet. Das kann nun zur Vergangenheit werden. Wenn du dich bewusst dafür entscheidest und regelmäßig deine für dich persönlich wirksamen Skills anwendest.

 

WEITERE SOFORTMASNAHMEN BEI GROSSER ANSPANNUNG

Sich ablenken: Körperempfindungen

- getrocknete Chilischoten 
- Chiliweingummis 
- Vitamin- oder Brausetabletten in den Mund nehmen 
- Kaugummis (mit intensivem Pfefferminzgeschmack) 
- Japanisches–Heilpflanzenöl, zum Riechen (gibt es sehr günstig in Drogeriemärkten) 
- Ammoniak Lavendel Ampullen (zum dran riechen)
- Gummi für's Handgelenk (ziehen und spicken lassen)
- Bonbons mit intensivem Pfefferminzgeschmack ( z.B. Fischermen Friends) 
- Coolpack auf den Arm legen 
- Kaltes Wasser über die Unterarme laufen lassen 
- Extra scharfer Senf (zum Essen oder Riechen) 
- Wasabipaste essen (grüner Meerettich für Sushi - sehr scharf) 
- Igelball (gibt es in unterschiedlichen Härten - auch in Apotheken oder Drogeriemärkten) 

 

SICH BERUHIGEN MIT HILFE DER 5 SINNE

- Lieblingsparfüm 
- Aromaöl - für zu Hause mit Aromalampe (z.B. von Body-Shop, Lavera, etc. = weil natürlich) 
- Zuhause in Wolldecke kuscheln 
- schöne Muscheln 
- Baden mit einem besonders angenehm riechenden Badezusatz 
- Eincremen mit passender Milch oder Lotion 
- Trockene Haut morgens mit Sisalhandschuh oder einer Naturbürste abreiben 
- Wechselduschen morgens 
- Kuscheltier 
- Parfumpröbchen 
- Postkarten, über die du dich gefreut hast 
- Liebevolle Briefe, die du bekommen hast 
- Ausdrucke von Emails, die aufbauend waren 
- Mandalas zum Ausmalen 
- Kreuzworträtsel oder Sudoku 
- Engel (Figur) 
- Discman mit Audio-CD's, z.B. von Luise Reddemann: Wohlfühlort 
- Engel-Meditations-Cd's 
- Leckerer Tee (vieleicht auch verschiedene Sorten) 
- Entspannungsmusik hören (CDs) 
- Videos oder DVDs mit schönen Kinderfilmen für die Innenkinder (DIS)

Diese Liste erhebt natürlich keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Vielleicht fällt dir ja auch selbst etwas ein, was du für unterwegs mitnehmen kannst oder, was du für zu Hause in deinen Notfallkoffer packen kannst den Du immer dabei haben solltest.

Selbstverletzendes Verhalten ist kein eigenständiges Störungsbild aber ein klinischpsychiatrisch relevantes Symptom, das häufig gemeinsam mit Erkrankungen wie:

- Depressionen
- Drogen-und Alkoholabhängigkeit
- Traumatisierungen
- Angststörungen
- Persönlichkeitsstörungen vom Borderline-Typ (BPS)
- Multiple Persönlichkeitsstörung (MPS)
- Essstörungen
- Zwangsstörungen auftritt.

DIE WICHTIGSTEN RISIKOFAKTOREN

  • Der Impulsivität (populär: einem unüberlegten, unerwarteten und plötzlichen Handlungs-Muster) wird eine wichtige Funktion in der Psychologie des Selbstverletzungs-Verhaltens beigemessen. Dabei vermutet man auch gleich einen biologischen Hintergrund, nämlich eine Störung im serotonergen Neurotransmitter-System des Gehirns (s. u.). Das wird durch vielerlei Untersuchungsergebnisse und entsprechende Schlussfolgerungen gestützt.

Ein Aspekt ist beispielsweise derjenige, dass die meisten Patienten nur wenige Sekunden oder überhaupt nicht über das selbstverletzende Verhalten nachdenken, bevor sie zur Tat schreiten. Auch zeigt sich, dass viele Patienten davon berichten, fast täglich einen Drang zur Selbstverletzung zu verspüren, was dann nicht mehr mit einzelnen Beeinträchtigungen erklärt werden kann, so häufig belasten selbst negative Verhältnisse auch wieder nicht.

  • Dagegen finden sich in der Vorgeschichte der Betroffenen gehäuft traumatische Erlebnisse; und hier vor allem sexuelle Missbrauchs- und körperliche Misshandlungs-Erfahrungen, insbesondere in der Kindheit.

Solche traumatischen (in diesem Fall körperlich, vor allem aber seelisch verwundende) Ereignisse gelten als wichtiger, wenn nicht gar wichtigster Risikofaktor für selbstverletzendes Verhalten.

- Dabei scheinen bei jungen Männern physische (körperliche) Misshandlungen mehr Bedeutung zu haben als die Erfahrung eines sexuellen Missbrauchs oder einer emotionalen Vernachlässigung.

- Beim weiblichen Geschlecht denkt man vor allem an sexuellen Missbrauch, wobei jedoch hier neben traumatischen Kindheits-Erlebnissen auch eine Neigung zu emotionaler (gemütsmäßiger) Übererregbarkeit und eine mangelnde Fähigkeit vorliegt, sich gemütsmäßig auszudrücken, beispielsweise darüber entlastend zu sprechen.

  • So wird auch immer wieder darüber berichtet, dass eine gestörte Emotions-Regulation, d.h. eine affektive Dysregulation für die Entstehung von selbstverletzendem Verhalten verantwortlich sein kann (kurz und allgemein verständlich eine ausgeglichene Stimmungslage zu unterhalten. Zumindest wird ihr eine bedeutsame Rolle zugeschrieben, was die halt nur kurze Beeinflussung einer negativen Gemütslage, vor allem aber was den Zwang zu immer wiederholter Selbstbeschädigung anbelangt.
  • Ist selbstverletzendes Verhalten also eine psychische Störung bzw. findet sie sich im Rahmen einer seelischen Erkrankung, und wenn ja, bei welchen bevorzugt? Auch dies hat natürlich die Experten immer wieder beschäftigt und die Ergebnisse ihrer Untersuchungen lauten:

Oberflächliche und mittelschwere Formen selbstverletzenden Verhaltens finden sich vor allem in Kombination mit Persönlichkeitsstörungen, besonders bei Borderline-Störungen. Einzelheiten dazu siehe die entsprechenden Kapitel in dieser Serie. Hier ist es vor allem das „andauernde Muster von affektiver und interpersoneller Instabilität sowie deutlicher Impulsivität und einer damit verbundenen Neigung zu selbstdestruktiven Handlungsweisen“ wie es in der Fachsprache heißt. Oder auch kurz und allgemein verständlich: Diese Menschen sind inner-seelisch nicht im Gleichgewicht, gleichsam durchgehend instabil und dabei zusätzlich noch impulsiv, was eine unerträgliche Spannung aufbaut, die in ihren Augen nur durch Selbstverletzungen gelöst oder zumindest gemildert werden kann.

Allerdings gibt es Selbstverletzungen auch bei Ess-Störungen, posttraumatischen Belastungsstörungen und Substanz-Missbrauch (Rauschdrogen, Alkohol, Medikamente, Nikotin). Und sie finden sich sogar bei depressiven Zuständen, die man früher beispielsweise als endogene Depressionen und heute als Major-Depression bezeichnet. Auch hier: Einzelheiten siehe die zum Teil ausführlichen Beiträge in dieser Serie.

Auf jeden Fall wird das selbstverletzende Verhalten auf zweierlei hinweisen (können): Zum einen als Reaktion auf die Belastung durch solche Erkrankungen bzw. ihre Symptome und zum anderen als mehr oder weniger typische Merkmale dieser Störung, zumindest aber als Vorläufer der jeweiligen Erkrankung.

Beides ist auf jeden Fall ungünstig, was die Heilungsaussichten anbelangt und bedarf deshalb einer raschen Diagnose und gezielten Therapie.